17. Juli 2023
„Wenn das Produkt großartig ist, kaufen es Kunden automatisch“ ist nach wie vor ein verbreiteter Irrglaube bei Start-ups. Doch selbst Start-ups, welche die Wichtigkeit von Distribution anerkennen, haben mit der Ausgestaltung dieser zu schaffen. Die drei im Artikel präsentierten Schritte helfen, eine erfolgreiche Strategie für die Kundengewinnung zu entwerfen.
von Radu-Andrei Maldea und Chris Baumhöer
Die Tatsache, dass Marketing, Vertrieb und die Kundengewinnung für Start-ups höchste Priorität haben, ist schwer zu leugnen. Ikonen wie Reid Hofmann, Venture Capital Unternehmen wie Sequoia Capital und selbst deutsche Start-ups im jährlichen Deutschen Start-up Monitor stehen dafür mit ihrem Namen ein. Das ist der Fall, weil – obwohl Kundengewinnung schon von großer Bedeutung war – diese für heutige Start-ups essenziell geworden ist. Die Ursache dafür ist die gestiegene technologische Komplexität der Produkte, die veränderten Kaufdynamiken der Kunden und die notwendige Kundenbelehrung, um neue Märkte zu erschließen und einen Wandel voranzutreiben. Neue Geschäftsmodelle wie beispielsweise zweiseitige Plattformen stellen eine besondere Herausforderung dar, weil zwei oft signifikant unterschiedliche Kundengruppen gewonnen werden müssen, um ein das Modell erfolgreich zu gestalten.
Sobald die Priorität der Kundengewinnung auf der Agenda nach oben gesetzt wurde, kann die Ausgestaltungen dieser beginnen. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch, dass Start-ups oftmals zwei stereotypische Ansätze dafür verfolgen. Wenig vertriebsorientierte Start-ups skizzieren eine gute strategische Ausrichtung für den Vertrieb, doch scheuen sich davor, diese auch operativ in der Praxis zu forcieren und sie zu einer Verantwortung der Geschäftsführung zu machen. Sehr vertriebsorientierte Start-ups, auf der anderen Seite, stürzen sich in operative Aktivitäten, um so viele Interessenten wie möglich zu erreichen.
Obwohl die Inhalte beider Ansätze notwendig sind, reichen sie allein nicht aus. Darum haben wir bei VIA Ventures eine drei Schritte Methodik erarbeitet, um die Kundengewinnung ganzheitlich zu betrachten. Diese drei Schritte sind zunächst die Bildung eines strategischen Fundaments, danach die operative Ausgestaltung und zuletzt die Performancemessung der Kunden-gewinnung. Zusammengenommen erlauben diese drei Schritte Start-ups eine zielgerichtete Diskussion über die Kundengewinnung zu führen und den Vertrieb bestmöglich in der Organisation zu etablieren.
Die strategische Basis dient als eine Art Leitplankensystem für die Kundengewinnung. Sie soll dafür sorgen, dass operative Vertriebs- und Marketingaktivitäten passend und aufeinander abgestimmt sind. Um das zu erreichen, müssen drei zentrale Aspekte beleuchtet werden: die Segmentierung der Kunden, die Analyse der Kundenbedürfnisse und die Zusammenstellung des Channel-mixes.
Die Kundensegmentierung unterteilt den Gesamtmarkt der Kunden mit verschiedenen Bedürfnissen und Eigenschaften in kleinere Kundensegmente mit ähnlichen Eigenschaften. Konsumenten können nach Alter, Geschlecht, Werte oder Einkommen segmentiert werden. Potenzielle Unternehmen hingegen nach Größe, Industrie und Verwendungszweck des Produkts. Alle Kunden können jedoch nach geographischen Kriterien segmentiert werden. Für technisch komplexe Produkte kann es sinnvoll sein, Kunden entlang der Adaptationsrate zu gruppieren. Für B2C Produkte helfen Sinus Milieus bei der Segmentierung. Nach der Segmentierung muss ein oder müssen einige wenige Zielsegmente ausgewählt werden. Ideal sind jene, die geringe Vertriebskosten verursachen, beispielweise durch Skalenvorteile oder niedrige Wechselkosten der derzeit genutzten Alternative.
Sind die Zielsegmente bestimmt, müssen die Bedürfnisse der Kunden innerhalb der Segmente analysiert werden. Selbst durchgeführte oder recherchierte quantitative Studien sowie qualitative Interviews mit Kunden oder Industrieexperten sind dabei hilfreich. Im Anschluss sollten entweder Persona vom stereotypischen Kunden oder Buying Driver Analysen erstellt werden, um das Kundenverständnis zu schärfen. Für eine erfolgreiche Distributionsstrategie sollte dieses Verständnis jedoch über Implikationen für die Produktentwicklung hinausgehen. Wichtig ist zu verstehen, wie diese Kunden für das Start-up gewonnen werden können und welche Marketing- und Vertriebswege die besten sind.
Zuletzt dient der Channel-mix als zentrale Leitplanke für die folgenden Taktiken der Kundengewinnung. Es muss festgelegt werden, wie die Kunden entlang des Sales-funnels erreicht werden sollen. Das Produkt und die Ergebnisse der Kundenanalyse dienen als Datengrundlagen. Es ist wichtig zu verstehen, ob und wie viel Direktvertrieb notwendig ist. Falls wenig Direktvertrieb notwendig ist, eignen sich Kanäle wie Online Advertising, Social Media, Artikel und Werbung in Fachzeitschriften, Mailing, Radio und Fernsehen. Falls intensiver Direktvertrieb notwendig ist, eignen sich Kooperationen mit Verbänden, Messen, Vorführevents und direkte Vertriebsgespräche, digital oder in Präsenz. Aus all den verschiedenen Möglichkeiten müssen die zur Zielgruppe passenden Alternativen ausgewählt werden. Oftmals ist es besser sich auf wenige Kanäle zu fokussieren und diese intensiv zu bespielen. Wie sie bespielt werden sollen, zeigt der nächste Schritt.
Die gelegte strategische Basis ist wichtig, aber nicht ausreichend. Sie legt die strategischen Leitplanken und schafft den nötigen Fokus für Start-ups, die fast immer Ressourcen-restriktionen haben. Im nächsten Schritt müssen operative Taktiken für die Kundengewinnung durchgeführt werden. Die hier präsentierten Taktiken helfen dabei diesen Schritt im eigenen Start-up zu implementieren.
Gezielte Online Werbung ist ein wertvoller Vertriebskanal für Start-ups. Die gezielte Werbung und Platzierung auf Plattformen wie Google, Facebook, Amazon oder LinkedIn erlaubt eine gezielte Ansprache, schnelle Skalierung und genaue Performanceanalysen. Die Werbung kann zielgruppenspezifisch geschaltet und optimiert werden.
Zudem stellen die Plattformen in der Regel zusätzliche Tools, zur Analyse und Optimierung der Performance zur Verfügung. Beispielsweise ermöglichen sogenannte Pixel – von den Plattformen bereitgestellte Codes – das Besucherverhalten auf Webseiten zu erfassen und diese Personen mit gezielten Werbeanzeigen erneut anzusprechen. Ein solches „Retargeting“ bestehender Kunden und Interessenten ist oftmals die effektivste Grundlage für erfolgreiche Werbekampagnen. Es bietet den Algorithmen der Plattformen außerdem wertvollen Input, weitere Personen mit ähnlichen Eigenschaften zu identifizieren. Onlinewerbung kann jedoch schnell zu teuer werden, wenn die erreichte Reichweite nicht zielführend monetarisiert werden kann. Daher sollte eine gewisse Lernkurve für den effektiven Aufbau von Werbekampagnen erreicht werden, um die gewünschte Performance zu erreichen. Die stetige Optimierung der eigenen Webseite ist hier von besonderer Bedeutung. Nur durch eine aussagekräftige Website können gewonnene Interessenten auch in Kunden umgewandelt werden. Darüber hinaus kann auch die Optimierung der Webseite hinsichtlich der Kriterien von Suchmaschinen wie Google wichtig sein. Genannt wird dieser Prozess – Search Engine Optimization (SEO). Wichtige Kriterien sind dabei die Recherche und Verwendung der richtigen Keywords, die Geschwindigkeit der Seite, die Hinterlegung passender Meta-Daten (die Kurzbeschreibung, welche bei einer Google Suche angezeigt wird) und ein intuitiver Aufbau der Website.
Das Aufbauen eine E-Mail-Liste ist eine weitere Möglichkeit Kunden zu gewinnen. Diese Taktik besteht aus zwei Schritten. Zuerst müssen E-Mailadressen von Interessenten gesammelt werden. Hierbei gilt es besonders auf Datenschutzrichtlinien gemäß DSGVO zu achten. Danach müssen die den Interessenten zugesendeten Mails wirksam sein. Mailadressen sammelt ein Start-up idealerweise über interessante, informative und meist kostenlose Angebote auf der eigenen Website. Dies können Newsletter, Studien, Reports mit neuen Informationen oder Demo Versionen des eigenen Produkts sein. Zur Automatisierung des Emailmarketings, gibt es für Einsteiger bereits viele sehr kostengünstige Dienstleister. Wenn die Mailkampagnen automatisiert sind und an potenzielle Kunden versendet werden, sollte der Inhalt der Mails die Kunden zurück auf die eigene Website oder zum Verkaufskanal lenken. Beim Versenden der Mails sollte unbedingt darauf geachtet werden, die sich weiterentwickelnden Spamfilter zu umgehen und hochqualitativen Inhalt bereitzustellen.
Die letzte wirksame Taktik zur Kundengewinnung ist ein Empfehlungsprogramm. Dabei wird Bestandskunden ein Mehrwert geboten, wenn diese das Produkt des Start-ups an Bekannte oder Kooperationsunternehmen empfehlen und diese das Produkt erwerben. Diese Mehrwerte können Gutscheine für nächste Käufe, Gratismonate bei Abonnementmodellen oder das Aufwerten bei Freemium Modellen sein. Diese Taktik steigert nicht nur die Kundengewinnung, sondern stärkt meist auch die Loyalität der Bestandskunden und erhöht das Word-of-mouth.
Abschließend sollten zwei Aspekte beim Verwenden der Taktiken beachtet werden. Zum einen sollen die Taktiken zu den darauffolgenden Verkaufsaktivitäten (z. B. direkter Vertrieb, Online Shop, Verkauf durch Partner) passen. Zum anderen sollte das optimale Level von Customer Education, vor allem bei technologisch komplexen oder neuen Produkten, erreicht werden.
Der letzte Schritt ist die Messung der Wirksamkeit der Kundengewinnung. Start-ups können im Gegensatz zu etablierten Unternehmen oftmals leichter von Beginn an datenbasierte Arbeitsweisen mit Kunden- und Unternehmensdaten etablieren. Diese Daten sollten hinsichtlich der Produktentwicklung aber nicht zuletzt auch in Bezug auf die Marketing- und Vertriebsaktivitäten geprüft werden.
Auswertungen der Websiteaktivitäten, die Datengrundlage der Social Media Plattformen und Keywordanalysen stellen wie bereits erwähnt eigene Tools zur Verfügung, die Kunden- und Zielgruppeninformationen sammeln und auswerten. Speziell in Bezug auf die Nutzung von Online Werbung, können Kennzahlen wie der CPC (Cost per click), also die Kosten pro einzelnen Klick, die CTR (Click through rate) der prozentuale Anteil an Personen, welche auf die Anzeige klicken oder etwas globaler gedacht der ROAS (Return on ad spend), also das Verhältnis zwischen den Werbekosten und dem daraus generierte Umsatz oder Gewinn, helfen die Performance der Werbekampagnen zu analysieren. Auf Unternehmensebene sind weitere wichtige Kennzahlen bei der Kundengewinnung die Customer acquisition costs (CAC), die durchschnittlichen Kosten, um einen Kunden zum Kauf zu bringen und der Return on investment (ROI), der Gewinn oder der Umsatz, der durch die Kunden, welche mit den verwendeten Taktiken gewonnen wurden, geteilt durch die gesamten dafür aufgebrachten Kosten.
Diese Kennzahlen sollten idealerweise für alle Kanäle und Kunden aber auch kanalspezifisch und segmentspezifisch gemessen werden, um zu verstehen, welche Taktiken besser und welche schlechter für das eigene Start-up funktionieren.
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Kundengewinnung ist eine sehr wichtige Aktivität für Start-ups. Für neue, digitale Geschäftsmodelle wie zweiseitige Plattformen ist die Kundengewinnung schwieriger als für traditionellere Geschäftsmodelle. Um diese dennoch wirksam zu gestalten, bieten die vorgestellten drei Schritte effektive Leitlinien. Zunächst gilt es die strategische Basis zu legen, um den richtigen Fokus und die Zielgruppe adäquat zu erfassen. Nachfolgend sollten die wirksamsten operativen Taktiken identifiziert und umgesetzt werden. Und im finalen Schritt soll die Performance der Kundengewinnung kontinuierlich gemessen und verbessert werden. Dieses Konzept bietet Start-ups die nötige Grundlage, um die strategische Kundengewinnung intern zu diskutieren und für die eigene Organisation zu individualisieren.